Die so genannte “Affäre des 8. Dezember” ist eine “anti-Terror”-Operation des französischen Innenministeriums gegen linke Aktivist*innen. Sie werden als “ultra-linke Aktivist*innen” bezeichnet und angeklagt, eine “kriminelle terroristische Vereinigung” gebildet zu haben.
Der französische Geheimdienst DGSI (“Generaldirektion für innere Sicherheit”) nahm mit Hilfe militarisierter Polizeieinheiten (GAO, RAID) neun Menschen fest. Sie fühlen sich allgemein dem “anti-autoritären” Spektrum zugehörig, waren aber in unterschiedlichen politischen Bereichen und verschiedenen Regionen aktiv: manche von ihnen unterstützten Geflüchtetenfamilien, waren Teil von autonom-kollektiven Projekten auf dem Land, leisteten Opfern staatlich finanzierter Morde Beistand, besetzten Räume für politische Aktivitäten und Kultur von unten, beschäftigten sich mit Ökologie und Tierbefreiung, waren in die Zones A Défendre (ZAD) involviert, in der Punk-Szene, kämpften feministisch etc.
Diese neun Menschen kannten sich gar nicht alle. Manche hatten sich nur ein einziges Mal in ihrem Leben (während der Ausgangssperren zur Corona-Zeit) gesehen. Aber alle hatten einen gemeinsamen Bekannten, der seit seiner Rückkehr aus Rojava 2018, wo er sich am Kampf gegen den IS beteiligt hatte, ins Visier des DGSI geraten war.
VERMEINTLICHE “FAKTEN”:
Obwohl sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung in unterschiedlichen Regionen lebten, behauptet der DGSI “unspezifische Vorhaben von Angriffen gegen Ordnungskräfte” vereitelt zu haben. Diese Verdächtigungen wurden tagelang in den Medien als Gewissheit wiedergegeben.
Indes weisen die Angeklagten, ihre Verwandten und Anwält*innen diese Anschuldigungen zurück, denn sie gründen sich lediglich auf “zügellosen Spekulationen”.
Den Beschuldigten werden verschiedene “materielle Elemente” vorgeworfen, die verschiedene Menschen betreffen und einen Zeitraum von lediglich 2 Monaten umfassen: Waffenbesitz, Herstellung von Feuerwerk, Softair-Spielen und die Nutzung von Anbietern sicherer Kommunikation.
Diese “Fakten” sind entweder völlig legal, oder aber Vergehen, die unter die gewöhnliche Gerichtsbarkeit fallen. Die Angeklagten sind bereit, sich diesen Konsequenzen zu stellen. Aber DGSI und Justizministerium tun alles in ihrer Macht stehende, um einen “terroristischen” Anschein zu erwecken.
Zu diesem Zweck werden alle anderen Aktivitäten der Angeklagten, die nicht zu diesen Bezichtigungen passen (ihre beruflichen, aktivistischen oder familiären Projekte) unter den Teppich gekehrt. Beim Eindringen in ihre Privatleben wurden nur die “belastenden” Bestandteile herausgefiltert. Eine beschuldigte Person bezeugt: “Dieser Fall besteht aus einer Zusammensammlung verschiedener Teilstücke, die nichts miteinander zu tun haben. Daraus einen Fall zu machen, funktioniert nur dadurch, dass sie aus dem Kontext gerissen und anders zusammengebastelt werden.”
Waffenbesitz.
Ein paar Waffen wurden während der Ermittlung beschlagnahmt. Es handelt sich dabei um nicht funktionstüchtige Sammlerstücke oder Jadgwaffen, die vier Angeklagten (oder ihren Familien) zugeordnet werden. Nicht ansatzweise vergleichbar etwa mit den Arsenalen, die im Juni 2022 in Alsace oder November 2021 in Eure bei Neo-Nazis und Militärs gefunden wurden, ohne dass die so genannte “Nationale Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung” (PNAT) Interesse daran gezeigt hätte.
Zwei der angeklagten GenossInnen waren Mitglied im Schützenverein und hatten eine Jagdlizenz auf Selbstversorgungs-Basis. Dass sie diesen Sport ausübten, war kein Geheimnis – sie unterhielten sich darüber am Telefon. Auch der Betreiber des Schützenvereins zeigte sich verblüfft, als er von den Verhaftungen hörte. Die Waffen in ihrem Besitz waren, abgesehen von einer Schrotflinte, nur zum Gebrauch im Schützenverein geeignet, da sie bei der Jagd auf Tiere keine tödliche Wirkung hätten. Eine weitere angeklagte Person besaß Gewehre, die nur beim Dreh von Musikvideos genutzt wurden und daher fast nie eingesetzt worden waren.
Vier gefundene Waffen waren illegal (das ist ein Verstoß gegen das allgemeine Gesetz): eine abgesägte Schrotflinte und drei Gewehre. Erstere war in Libre Flots Zuhause aufbewahrt worden. Er hatte sie vor Jahren auf dem Flohmarkt erstanden, um sich mit Zielübungen schon mal auf seinen Aufenthalt in Rojava vorzubereiten.
Die Gewehre, die einer weiteren angeklagten Person zugeordnet werden, waren einige Jahre zuvor für die Jagd und zum Vertreiben von Schädlingen angeschafft worden. Eines dieser Gewehre wurde für ein Musik-Video verwendet, da es dem Stil der 30er-Jahre entspricht. In beiden Fällen gab es sehr geringe Mengen oder gar keine zugehörige Munition.
Herstellung von Feuerwerkskörpern
Im Laufe der Ermittlungen wurden zu zwei Gelegenheiten Feuerwerkskörper hergestellt. Eine davon war ein Wiedertreffen zweier Angeklagter. Nach vielen Jahren auf getrennten Wegen verbrachten sie ein gemeinsames Wochenende. Einer der beiden ist von Beruf Sprengstoff-Experte mit dem Schwerpunkt Spezialeffekte. Dabei wurde eine sehr kleine Menge hergestellt und kein Vorrat aufbewahrt.
Die zweite Gelegenheit, ein paar Wochen später, ergab sich während der Corona-Ausgangssperren. Einige der Angeklagten fanden sich für drei Wochen auf einem weiträumigen kollektiven Hofprojekt auf dem Lande ein. Eines Nachmittags wurde ein Rezept aus dem Internet für Acetonperoxid ausprobiert, um Zeit totzuschlagen (und keine Menschen!). Schließlich gelang es, eine geringe Menge zu erzeugen (das war gar nicht leicht!) und der Böller wurde im Wald entzündet. Die meisten der Angeklagten haben das erste Mal eine Explosion erlebt und ihnen gefiel diese Erfahrung nicht sonderlich. Nachdem ihre Neugier gestillt worden war, wurden bis zu den Verhaftungen (8 Monate später!) keine weiteren Versuche gestartet.
Der Besitz, die Herstellung und der Transport explosiven Materials ist ein strafbarer Verstoß gegen allgemeines Gesetz. Auch an dieser Stellte ist es ein Prozess von Absicht und Meinung, der es dem Justizsystem erst ermöglicht, diese Ereignisse als “Terrorismus” zu bezeichnen.
Softair-Spiele
Drei der sieben Angeklagten spielten gelegentlich das Schieß-Simulationsspiel “Softair”. Dieser Sport wird mit “Nachbildungen”, also Plastikpistolen gespielt, die kleine Kügelchen verschießen. Dies ist eine vollkommen legale Tätigkeit. Und dennoch werden die Angeklagten dafür beschuldigt, zwei Mal Softair gespielt zu haben. Der DGSI betrachtet dies als paramilitärisches Training und behauptet auch hier, dass Libre Flot das Spiel genutzt habe, um seine Freund*innen im Guerillakampf auszubilden. Das führt zu der Frage: welche legale Praxis wird auf einmal illegal, wenn jemand eine Kriegserfahrung gemacht hat?
Mittel der sicheren Kommunikation
La Quadrature du Net hat aufgezeigt, wie der DGSI die gewöhnliche Ausübung digitaler Selbstverteidigung als “klandestines Verhalten” und eine “Kultur der Heimlichkeit” umdeutet. Dies solle auf die angeblichen terroristischen Absichten der Angeklagten hinweisen. Das führte in der Welt der Netzpolitik zu einem internationalen Aufschrei. Es ist dieselbe Art von paranoiden Schlussfolgerungen, die auf jeglicher Ebene des Falls beobachtet werden kann. Die vorverurteilende Schuldvermutung erreicht hier schwindelerregende Ausmaße.
Die Nutzung von WhatsApp, Signal, Tails, Tor, eOS, Jitsi, Telegram, u.a. werden dabei mit vor-terroristischem Verhalten gleichgesetzt. Die Angeklagten werden auch dafür belangt, “sich zu weigern, Passwörter für die Entschlüsselung herauszugeben”. Dies wurde im Gesetz vom 3. Juni 2016 zur “Stärkung des Kampfes gegen organisiertes Verbrechen, Terrorismus und ihre Finanzierung” als strafbare Handlung deklariert. Dieses Vergehen untergräbt das Grundrecht, sich nicht selbst zu belasten (das Recht zu Schweigen).
UNTERBINDUNGSGEWAHRSAM (UND WEISSE FOLTER)
Diese vorbeugenden Festnahmen führten in fünf Fällen zu Präventivhaft unter extremen Bedingungen. Die Dauer der Inhaftierungen reichte von 4,5 Monaten als DPS (Häftlinge unter Sonderbedingungen) bis zu 16 Monaten in Isolationshaft (die erst durch einen zermürbenden Hungerstreik beendet wurde).
Etliche “anti-terroristische” Maßnahmen wurden auf gesetzeswidrigem Wege gegen die Angeklagten vollstreckt. Dazu gehören die 16 Monate, in denen Libre Flot in Isolationshaft gehalten wurde und die unablässigen Leibesvisitationen, denen Camille unterzogen wurde. Kürzlich wurde der Staat (zaghaft) für einen Teil dieser vernichtenden Gewalt verurteilt.
Unterstützungskomitees, Verwandte und Anwält*innen haben die Anwendung von Isolationshaft mehrmals als “weiße Folter” angeprangert. Im Verlauf der Haft hat Libre Flot immer wieder auf die Auswirkungen der Isolationshaft auf seine Gesundheit hingewiesen. Während er bekundete, unter massivem Gedächtnisschwund, Konzentrationsstörungen, chronischer Migräne usw. zu leiden, setzte der verantwortliche Untersuchungsrichter (wissentlich) die Verhöre fort. Damit nutzte er diese Situation auf sadistische Weise aus. Im April 2022 ließ sich der Richter dazu herab, ihn mit elektronischer Fußfessel “aus medizinischen Gründen” zu entlassen – nach 36 Tagen Hungerstreik, einem internationalen Tag der Mobilisierung und Presseartikeln, die seine Entlassung forderten. Bis heute (eineinhalb Jahre nach der Isolation) halten die Beschwerden an.
AUFGELADENE ERMITTLUNG
Die ernannten Untersuchungsrichter machten das Ganze von vornherein zu einer persönlichen Angelegenheit. Sie begegnen den Angeklagten ab dem ersten Zusammentreffen mit spürbarem Hass. Er wird mit gereiztem Umgangston, geringschätzigen Kommentaren und Klassenverachtung untermalt und zeugt von einer subjektiven Annäherung, die von niederen Instinkten geleitet wird. Diese Herangehensweise wird abgesichert von der unantastbaren “Geheimhaltung des Palastes”, dem alten Gesetz der juristischen omertà welches diktiert: “was hinter vorgehaltener Hand gesagt wird, bleibt inoffiziell”. Sollten sich Anwält*innen dem nicht fügen, riskieren sie, das Vertrauen des gesamten Apparates zu verlieren und vom Informationsfluss abgeschnitten zu werden.
Zusätzlich zum Freiheitsentzug wurde die Verteidigung der Angeklagten deutlich dadurch beeinträchtigt, dass ihnen der Zugang zu ihren eigenen Akten verweigert wurde. Die Angeklagte, die als erste aus dem Knast entlassen wurde, musste noch vor ein Berufungsgericht ziehen, um schlussendlich das Recht auf Akteneinsicht zu erhalten.
Sinn und Zweck dieser behindernden Maßnahmen war, es der Verteidigung zu verunmöglichen, Anträge auf Nichtigkeit innerhalb der gesetzlichen Frist zu stellen – diese beträgt 6 Monate nach der Festnahme. Denn um sich einen Überblick verschaffen und sich wirksam verteidigen zu können, werden natürlich zunächst Informationen benötigt. Der besagten Angeklagten wurde die Akteneinsicht erst drei Wochen vor Ablauf der Frist gestattet. Es blieb also wenig Zeit, um gemeinsam mit den Anwält*innen die Akten zu überprüfen und die Rechtmäßigkeit verschiedener Bestandteile anzufechten. Letzten Endes wurden übrigens sämtliche gestellten Anträge abgelehnt.
Anfang September 2021 gab es einen offenen Brief von “Familien, Freund*innen und Angeklagten” an den Untersuchungsrichter, in dem die Methoden des DGSI verurteilt wurden. Außerdem wurde die Freilassung der letzten Angeklagten gefordert – ohne Ergebnis.
Libre Flot berichtete auch vom ungeheuerlichen Verhalten des Untersuchungsrichters Jean-Marc Herbaut in dessen Büro. Es kam zu Wutausbrüchen, Beleidigungen und so weiter. In Libre Flots Erklärung zum Hungerstreik benennt er: “dieselben peinigenden Methoden wie die des DGSI: er manipuliert, verfälscht, reißt die Dinge aus dem Zusammenhang, lässt andere weg und erfindet Worte und Fakten, immer darauf bedacht, die Antworten zu beeinflussen.”
Trotz all dieses Aufwands, das Unbeweisbare nachzuweisen, war der Untersuchungsrichter zumindest gezwungen, dann doch zuzugeben: “es gab keinen unmittelbaren Plan einer Aktion.” Die ursprünglichen “unspezifischen” Vorhaben, Ordnungskräfte oder auch die Armee anzugreifen, zersetzten sich endgültig im Treibsand der politischen Anschuldigungen. Der Fall, der als “Strafsache” begann, schrumpfte nun zu “minderen Delikten”. Es gibt kein Projekt! Da sich die Staatsanwaltschaft aber weigert, endgültig unterzugehen, klammert sie sich an die an den Halm der jüngeren islamophoben Rechtssprechung.
Ohne Vorbehalte schreibt Jean-Marc Herbaut in den Vorlagebeschluss:
“Die Beteiligung an der Gruppierung oder Absprache allein ist strafbar, ohne dass eine Mitwirkung an den Verbrechen oder deren Vorbereitung nachgewiesen werden muss. Ebenso wenig muss eine genaue und konkrete Kenntnis des von der Gruppe angezettelten Plans nachgewiesen werden.”
Als kleine Zusammenfassung: es gibt keine organisierte Gruppe, keine Vorbereitung von Aktionen (weder kriminellen noch Sabotageaktionen), weder eine politische Übereinkunft noch eine Ausrichtung auf den Untergrund – und trotzdem schuldig?! Die Denkweise einiger Staatsanwält*innen hat das Recht eindeutig in trübe Gewässer verschifft…
Der DGSI und die PNAT haben keinerlei Skrupel, auf die verlogensten Verschwörungstheorien zurückzugreifen, um über die gähnende Leere in ihren Akten hinwegzutäuschen (das Beste heben wir uns für später auf!) Es muss noch erwähnt werden, dass es der erste ultra-linke Fall für die neu gegründete PNAT ist, von dem sie auch deshalb nicht ablassen will. Die Institution ließ auch regelmäßig Informationen zur radikalen Rechten und rechten Medien durchsickern.
Ein Artikel in Le Figaro vermengte Libre Flots Biografie mit der eines anderen internationalistischen Aktivisten und wurde nur nach einer Androhung rechtlicher Schritte abgeändert. Auf den investigativen Artikel von LaQuadrature du Net über die Gleichsetzung von Verschlüsselung mit terroristischem Verhalten, beteuerten Vertreter*innen der PNAT bei einer Konferenz zu digitalen Fragen: “es wird eine Reaktion in der Presse geben.” Diese kam dann auch ein paar Wochen später: auf France Info wurde ein Artikel veröffentlicht, der sich erneut auf Libre Flot stürzte und Waffen und Sprengstoff in dessen Auto unterstellte, die es nie gegeben hatte.
ZURÜCK ZUM DEZEMBER 2020
Bis heute fragen sich die Angeklagten, ihre Anwält*innen und Unterstützer*innen, warum sie am 8. Dezember verhaftet wurden. Die Angeklagten wohnten in verschiedenen Regionen und hatten unterschiedliche Lebenspläne und aktivistische Engagements. Acht Monate nach den Ereignissen, derer sie angeklagt wurden, war offensichtlich, dass keine Gruppe oder Organisation existierte, die irgendwelche gewaltsame Aktion vorgehabt hätte.
Also, warum dieser Fall?
Zuschlagen gegen Kritik an Polizeigewalt
Wenn die politischen und medialen Verlautbarungen nach den Festnahmen einmal näher betrachtet werden, fällt es nicht schwer zu verstehen, warum Darmanin die Gelegenheit am Schopfe packte (da der DGSI dem Innenministerium unterstellt ist, war er schon viele Monate lang über die Entwicklung dieses Falles im Bilde). Unsere GenossInnen wurden als Figuren zur medialen Inszenierung benutzt, um einem ideologischen Projekt zu dienen: dem Vormarsch des Faschismus.
Im Juni 2020, kurz nach dem Lockdown, hatte die BlackLivesMatter-Bewegung in Frankreich einen Höhepunkt erreicht. Es gelang ihr eine historische Mobilisierung vor dem Neuen Justizpalast. Das Problem von Polizeimorden und staatlichem Rassismus war in aller Munde. Sogar die Gerichte bescheinigten dem Staat “grobe Fahrlässigkeit” bei Fällen von Polizeigewalt, der Europarat verurteilte Frankreich für Polizeigewalt gegen Journalist*innen. Das Video rassistischer Misshandlungen Michel Zeclers lief über jeden Bildschirm, zwei Wochen vor den Festnahmen am 8. Dezember. Open-air Raves wurden gewaltsam von der Polizei zerschlagen und der Umgang mit der Gesundheitskrise führte zu beträchtlichem Zähneknirschen.
Die Regierung reagierte eilends mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen und verabschiedete zwei besonders bedenkliche Gesetze: Das Separatismusgesetz und das Gesetz zur Globalen Sicherheit. Dem wachsenden Unmut entgegnete die Regierung immer wieder “es gibt keine Polizeigewalt” und “wir werden gegen Schurken hart durchgreifen”. Es war an der Zeit, einen medialen Ausweg zu finden.
Was würde sich da besser eignen, um die Aufmerksamkeit abzulenken, als das alte Märchen von Demonstrierenden, die Polizeibeamte töten könnten – ohne irgendwelche Fakten – und allgemein, von der Polizei in ständiger Todesgefahr? Welchen besseren Weg gäbe es, um Kritik abzuwürgen?
Also brachten die Behörden diese unverhofften Festnahmen auf den Weg. “Unspezifische Vorhaben gewalttätiger Aktionen”, angeblich gegen “Polizeibeamte und die Armee”, “brutale ultralinke Aktivisten bereiteten einen Angriff vor” und so weiter und so fort. Von Darmanin über Laurent Nunez bis Eric Ciotti applaudierte die Rechte durch die Bank weg den Verhaftungen vom 8. Dezember. Die beteiligten militarisierten Polizei-Teams erhielten Beförderungen.
Um diese beunruhigenden Märchen zu illustrieren, strahlten die Massenmedien Bilder von “Randalierern” aus, obwohl die Angeklagten gar nicht für Beteiligung an Protesten belangt wurden. Die PNAT (oder der DGSI) ließ auch keine Zeit verstreichen, bevor sie Informationen zum Fall an LePoint weitergab, unter anderem Fotos von drei Angeklagten.
Autoritäre Gesetze und wiederum Sicherheitswahn
Die Affäre vom 8. Dezember findet vor dem Hintergrund kriminalisierter Kämpfe statt. Der Vorwurf der kriminellen Vereinigung wird als Werkzeug politischer Repression genutzt, während gleichzeitig ein Aufstieg der extremen Rechten in einer vorfaschistischen Atmosphäre zu verzeichnen ist. Seit 2015, und mehr noch innerhalb der letzten zwei Jahre, ist der autoritäre Wandel der aufeinanderfolgenden Regierungen äußerst besorgniserregend.
Während Repression gewaltsamer wird, wird gleichzeitig die “Gewalt” politischer Gegner*innen übertrieben und dämonisiert. Dadurch wird es möglich, immer neue Repressionswellen und Sicherheitsgesetze zu rechtfertigen. Es ist ein recht leicht vorhersehbarer Prozess, in dem zukünftige Polizeimorde legitimiert werden. Dieselben Mechanismen können bei jeglicher Staatsgewalt (Gefängnis, Justiz, Polizei) beobachtet werden. Der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe bezeichnet sie als Nekropolitik.
Es fing damit an, dass Muslime und Migrant*innen kriminalisiert wurden, was wiederum dazu führte, dass eine gesamte Community wahllos ins Visier geriet und mit Repression überzogen wurde (Moscheen und Schulen wurden geschlossen, das CCIF und Barakacity aufgelöst, tausende “Anti-Terror” Razzien im luftleeren Raum durchgeführt, etc.) Nun wird das Ganze auf alle sozialen Protestbewegungen, militante und antifaschistische Organisationen ausgeweitet.
In nur wenigen Monaten wurden die links-libertären Organisationen GALE und Bloc Lorrain aufgelöst, die pro-palästinensischen Gruppen Collectif Palestine Vaincra und Comité Action Palestine konnten dem bisher nur durch Klage bei einem übergeordneten Gericht entgehen. Auch Les Soulèvements de la Terre wurden aufgelöst, weitere Versuche wurden gegen Nantes Révoltée und Defcol angestrebt.
Die Werkzeuge behördlicher Repression (die in den Zuständigkeitsbereich der inneren Sicherheit – und somit des Innenministeriums fällt) werden auch gegen Aktivist*innen eingesetzt. Das äußert sich dann in Gebietsverboten, Einweisung in Abschiebeknäste (CRA), umfassender Überwachung, Hausarresten. Heute erkennen wir, wie die Justiz (sogar die so genannte “ordentliche Gerichtsbarkeit”) immer mehr militarisiert wird. Gemeinsam mit Institutionen der Anti-Terror-Polizei werden vermeintliche Aufrührer willkürlich beseitigt.
Werfen wir einen Blick auf die jüngsten gesetzlichen Maßnahmen, die zur Unterdrückung jeglichen Zweifels an der bestehenden Ordnung verwendet werden:
SILT-Gesetz (30. Oktober 2017)
Das “Gesetz zur Stärkung der inneren Sicherheit und den Kampf gegen den Terrorismus“ wurde als eine Ausweitung des Ausnahmezustands verabschiedet. Der Ausnahmezustand wurde vom damaligen Präsidenten Hollande infolge der Anschläge auf das Bataclan-Theater angeordnet. Das SILT-Gesetz trat am 01. November 2017 in Kraft. Damit wurde im Namen des “Kampfes gegen den Terrorismus” der Polizei im allgemeinen Recht eine Bandbreite von behördlichen Maßnahmen zugestanden.
Der Ausnahmezustand wurde dauerhaft mit…
- “Schutzzonen” im öffentlichen Raum
- der behördlichen Schließung von religiösen Orten
- individuellen Maßnahmen zur administrativen Kontrolle und Überwachung, sogenannte “MICAS” (vereinfachen die Erteilung von Hausarrest und Reiseverboten)
- behördlichen Hausdurchsuchungen, die als “Hausbesuche” bekannt sind (ohne Durchsuchungsbeschluss, mit Antiterrorpolizei, willkürlichen Beschlagnahmungen usw.)
Dieses Gesetz beseitigt viele Kontrollebenen, die eigentlich dazu gedacht waren, die Bevölkerung vor der Regierung zu schützen. Es verleiht der Verwaltungsmacht dauerhaft weitreichende und besonders autoritäre Vorrechte, ohne eine gerichtliche Aufsicht. Damit wird Frankreich zum Polizeistaat.
Es ist nun erlaubt, dass Zwangsmaßnahmen auf keiner anderen Grundlage als einer Vermutung der Polizei durchgeführt werden. Damit verbunden ist die massenweise Wiederkehr der “weißen Notizen”. Repression benötigt nicht länger Beweise oder die faktische Mitwirkung an einer Straftat, noch Einzelheiten über die genannten Beweggründe.
Darüber hinaus vermehrt das Gesetz die Macht der Geheimdienste, indem es Massenüberwachung zur Alltäglichkeit macht und mehr Befugnisse zur Grenzkontrolle gestattet.
Gesetz vom 30. Juli 2021
Im Sommerloch präsentierte die Regierung das Gesetz “über die Prävention von Terrorakten und den Nachrichtendienst”. Es bedeutet eine nochmalige Verlängerung von befristeten Sicherheitsmaßnahmen im SILT-Gesetz.
Deren Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit konnten zwar nicht nachgewiesen werden. Dafür wird aber in Medien und Politik ständig über die “terroristische Gefahr” gesprochen.
Darmanin-Erlasse (4. Dezember 2020)
Diese drei Erlasse, die vom Innenministerium hervorgebracht wurden, sind darauf ausgelegt, die Befugnisse zur Datenspeicherung für Polizei, Nationalgendarmerie und behördliche Ermittlungen auszuweiten.
Ursprünglich verfolgte die Verordnung zur öffentlichen Sicherheitsprävention (PASP und GIPASP) “Personen, die sich wahrscheinlich an terroristischen Aktivitäten oder an kollektiven Gewaltaktionen beteiligen könnten”.
Diese ohnehin schon sehr dehnbare Formulierung, erlaubt es, bereits Personen die “radikalisiertes Verhalten” aufweisen, einzubeziehen. Oder auch Menschen, die an “illegalen Demonstrationen” oder “an gewalttätigen Handlungen oder Vandalismus bei Sportveranstaltungen” teilgenommen hätten.
Die neueren Erlasse weiten nun den Umfang von Inhalt und Zielgruppen nochmals wesentlich aus. Nach ihrer Bekanntgabe haben die Behörden nun freie Hand bei der Speicherung von Daten über juristische Personen oder Gruppierungen wie Vereine, militante Kollektive oder Gewerkschaften.
Außerdem ermöglichen es die Erlasse den Polizei- und Geheimdiensten, “politische Meinungen, philosophische und religiöse Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit sowie Gesundheitsdaten, die auf eine besondere Gefährlichkeit hinweisen” zu sammeln, und ebnen damit den weiteren Weg für die politische Säuberung, die schon im Gange ist.
Diese Dekrete dehnen die Anwendungsbereiche von Überwachung auf Gefahren “für die Sicherheit des Staates” und “Unversehrtheit des Hoheitsgebiets oder der Institutionen der Republik” aus. Abgesehen davon, dass sich mit dem Wort “Gefahr” eines komplett schwammigen Begriffs bedient wird, geht es für die Geheimdienste nicht mehr nur darum, Verbrechen zu verhindern, sondern um die Unterbindung von allem was keinen Respekt für staatliche Organe ausdrückt.
Damit passiert eine Bedeutungsverschiebung, die erreicht, dass die Behörden in erheblich größerem Umfang Daten speichern und Überwachungsmaßnahmen durchführen können. Ziel des Ganzen ist es, jegliche politische Opposition zu kriminalisiseren und auszuschalten. Die Gesetze sind also ein ernstzunehmender Schritt in Richtung Autoritarismus. Zudem erlauben sie den Geheimdiensten, auf alle Bereiche sozialen Protestes zuzugreifen.
Gesetz der Globalen Sicherheit (April 2021)
Nach den Vorschlägen für das “Gesetz der Globalen Sicherheit” (LSG) vom November 2020 hastete die Nationalversammlung geradezu durch die Eingaben. Am 20. Oktober 2020 eingebracht, gelangt es in nur knapp einem Monat vom Gesetzesausschuss zur Abstimmung in erster Lesung. Und das, obwohl der parlamentarische Terminkalender doch bereits überfüllt war. Das Gesetz erweitert die Möglichkeiten für eine allgemeine und unterschiedslose Überwachung aller in Frankreich lebenden Personen.
Es bestimmt auch das polizeiliche Vorgehen nach dem militaristischen Konzept des “Sicherheits-Kontinuums” neu. Das heißt, alle repressiven und reaktionären Akteure (von der Armee bis zum wachsamen Nachbarn) sollen aufeinander abgestimmt und in die gemeinsame Dynamik einbezogen werden.
Die wesentlichen Bestimmungen sind:
- Übertragung von Befugnissen der Kriminalpolizei auf die Gemeindepolizei (untersteht nur eine*r Bürgermeister*in, nicht der Justizbehörde).
- Erweiterte Genehmigungen zur Videoüberwachung: auf Gemeindepolizei, Gemeindebeamte, die polizeiliche Aufgaben übernehmen und einige Beamte des Verwaltungsbezirks.
- Übersendung von Bildern der Polizei-/Gendarmerie-Kameras aus der Fußgängerzone als Live-Stream in die Kommandozentrale – mit optionaler Gesichtserkennung.
- Zulassung der Bildaufnahme durch Drohnen – mit optionaler Gesichtserkennung.
- Verbot der Ausstrahlung von Bildern von Polizist*innen oder Gendarmen im Einsatz = Artikel 24 des Gesetzes. Er war Anlass für eine breite Protestwelle, wurde dann vom Verfassungsrat rückgängig gemacht, bevor er wiederum teilweise in dem einige Wochen danach verabschiedeten “Separatismusgesetz” neu aufgesetzt wurde.
- Abschaffung der Strafmilderungen für Gefangene, die wegen Gewalt gegen Regierungsbeamte für schuldig befunden wurden
- Erlaubnis für Ordnungskräfte, im öffentlichen Raum Waffen zu tragen.
- Ausweitung der Befugnisse privater Sicherheits- und Überwachungsunternehmen.
Während der Begutachtung des Gesetzes gab es zahlreiche Demonstrationen dagegen. Organisationen wie der CNCDH, dem UN-Menschenrechtsrat, dem Büro der UN Hohen Kommissarin für Menschenrechte, dem Europarat, der Rechtsverteidigerin (Défenseur des droits, DDD), die Europäische Kommission, die Anwaltskammer (Conseil des Barreaux) und weitere verurteilten den Gesetzestext.
Daraufhin wurde nur Artikel 24 gestrichen. Danach wurde er in leicht abgeänderter Form durch Artikel 18 im “Separatismusgesetz” einige Wochen später wieder eingeführt.
Separatismusgesetz (August 2021)
Die Grundzüge des “Separatismusgesetzes”, das Respekt für die Prinzipien der Republik erhärten soll, wurden gemeinsam mit dem LSG Anfang Oktober 2020 enthüllt. Am 09. Dezember 2020 wurde es dem Ministerrat vorgelegt. Die Regierung setzte auch hier ein beschleunigtes Verfahren für die Prüfung des Textes in der Nationalversammlung in Gang.
Es ist ein rassistisches und islamfeindliches Gesetz, das Folgendes vorsieht:
- Ausweitung der Antiterror-Karteien.
- politische Kontrolle von Vereinen über den “Vertrag zum Einsatz für die Republik”.
- Festlegung der Straftat “Gefährdung des Lebens anderer durch Verbreitung von Informationen über das Privat-, Familien- oder Berufsleben” (Artikel 18). Dabei wurde sich der Mord an Samuel Paty zunutze gemacht, um die Verbreitung von Bildern von Polizeigewalt und CopWatching kriminalisieren zu können.
- Strengere Kontrolle von Heimunterricht, Privatschulen und Sportverbänden.
- verstärkte Kontrolle von Kultstätten.
- Ausdehnung des Anwendungsbereichs automatisierter “Strafdateien über terroristische Vergehen” (FIJAIT).
Seit das Gesetz in Kraft trat, wurde es zunächst zur Auflösung von muslimischen Organisationen angewendet. Hiernach wurde in derselben Manier auch gegen antifaschistische, antirassistische und Öko-Aktivist*innen vorgegangen.
Es war insbesondere dieses Gesetz, das die rechtliche Grundlage für die Auflösung der GALE, des Bloc Lorrain, des Collectif Palestine Vaincra, des Comité Action Palestine sowie den Auflösungsversuch des Mediums Nantes Révoltée bot.
Hintergrund zu Rojava
Um die Anti-Terror-Operation vom 8. Dezember 2020 zu verstehen, müssen wir in der Zeit zum Januar 2014 zurückgehen, als in Rojava die Autonomie ausgerufen wuren. Rojava ist der syrische Teil Kurdistans. Die Kurd*innen sind die weltgrößte staatenlose Bevölkerungsgruppe und erheben Anspruch auf das Gebiet.
Die PYD (Partei der Demokratischen Union), die der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) nahesteht, übernahm die Kontrolle über die Region und kündigte am 9. Januar 2014 die Errichtung einer autonomen Verwaltung an, die sich am libertären Sozialismus und am demokratischen Konföderalismus orientiere. Die Verfassung von Rojava wurde am 29. Januar 2014 verabschiedet.
2015 erfährt die Revolution in Rojava in den westlichen Ländern eine beispiellose Medienpräsenz. Zahlreiche internationale Stellungnahmen (unterzeichnet von den bekanntesten linken Persönlichkeiten) riefen dazu auf, diese aufkeimende Utopie mit allen Kräften zu unterstützen. Etwa 30 Menschen aus Frankreich folgten dem Aufruf aus Rojava, “den Frieden zu schützen, indem sie an der Verteidigung gegen den IS und die türkische Armee teilnehmen”. Das gefiel dem französischen Staat so gar nicht, da er enge Verbindungen zum türkischen Diktator Erdogan – vor allem in der NATO – unterhält.
In Frankreich zeigte sich rasch, wie wichtig Rojava ist, als 2015 Charlie Hebdo von Anschlägen heimgesucht wurde. Die Kurd*innen standen vor Ort bei der Bekämpfung des IS an vorderster Front. Die Internationale Koalition (und die westlichen Medien) rühmten sie damals für ihren Einsatz.
Das demokratische Modell steht den autoritären Bestrebungen des IS entgegen. Das multi-ethnische Konzept (kurdisch, arabisch, assyrisch) macht gewaltsamen Spaltungen und Vorhaben anhand von Identitäts-Zugehörigkeiten einen Strich durch die Rechnung. Die ökologische Zielsetzung beruht auf Wiederaufforstung und Ernährungsautonomie und soll dazu beitragen, die Ernährungsunsicherheit und die Abhängigkeit vom Klima und den Weltmärkten zu verringern. Ihr feministisches und nach Gleichberechtigung strebendes Erbe steuert den abscheulichen Auswirkungen des Patriarchats entgegen. Kurzum: Sie trotzten an vorderster Front der Ausbreitung des IS, aber auch anderer autoritärer und militaristischer Regime, die sich auf den Islam stützen (Iran, Türkei). Somit hat sich ihr Modell als radikale Opposition herausgebildet und sie haben sich als unübertroffen effektiv im Kampf gegen den Terrorismus erwiesen.
Trotz einer feindlichen Atmosphäre in der Region (von der Türkei geplante Versteppung, Armut, Erdbeben, Kriegsfolgen, ständige bewaffnete Auseinandersetzungen, Terrorismus usw.) stellte dieses Modell eine Quelle der Hoffnung und Inspiration für Millionen von Kommunist*innen, Sozialist*innen, Anarchist*innen, Feminist*innen und Umweltschützer*innen auf der ganzen Welt dar.
KRIMINALISIERUNG VON INTERNATIONALISTISCHEN FREIWILLIGEN
In diesem Zusammenhang reisten Hunderte von Menschen nach Rojava, unter ihnen etwa 30 Menschen aus Frankreich. Einige von ihnen waren eindeutig rechtsextrem und ihr Ziel war “Muslime umbringen”. Andere, vor allem ehemalige Soldaten, erklärten, sie seien unpolitisch und nur am bewaffneten Kampf gegen den Terrorismus interessiert. Und schließlich gingen auch linke Genoss*innen dorthin. Sie empfanden es als eine Ehre, an einer solchen sozialen Revolution teilzunehmen zu dürfen. Libre Flot ist einer von ihnen. Er verbrachte einige Monate dort und hatte eine kurze Erfahrung an der Front: bei der Befreiung von Raqqa.
Das “Kollektiv französischsprachiger Freiwilliger in Rojava” (CCFR) erklärte:
“Unser Genosse war in Syrien und hat sich am Kampf gegen den IS beteiligt. Im Jahr 2017 trug er zur Befreiung der Hauptstadt der radikalislamischen Gruppe, Raqqa, bei. Raqqa ist ebenjene Stadt, in der die Anschläge auf Paris geplant und die meisten Attentäter ausgebildet wurden. Dass es in Frankreich seit Jahren keine größeren Anschläge mehr gegeben hat, ist der Befreiung Raqqas zu verdanken, an der unser Genosse unter Einsatz seines Lebens teilgenommen hat. Als er in Syrien kämpfte, trug er also direkt zur Sicherheit in Frankreich bei. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, dass dies im Medienspektakel keinerlei Erwähnung findet. Wie sollte es auch in die Erzählung der Anklage passen, dass der Beschuldigte viel mehr für den Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt hat als die Polizei, Staatsanwält*innen und Journalist*innen, die ihn heute beschuldigen, ein “ultralinker Terrorist” zu sein?”
Libre Flot ist nicht der einzige internationalistische Freiwillige, der nach seiner Rückkehr nach Europa ins Visier genommen wurde. Trotz ihres Beitrags zum Kampf gegen den Terror betrachtete der DGSI linke Freiwillige sofort als Bedrohung, während andere nicht mal beachtet wurden.
Auch dazu erklärt das CCFR:
“Der DGSI etablierte sofort eine Unterscheidung in die “schlechten” Freiwilligen, die sich einer revolutionären Ideologie anhängig fühlten und die “guten” Freiwilligen, ehemalige Soldaten oder unpolitische, letztere wurden bei ihrer Rückreise nach Frankreich meist nicht einmal befragt. Diejenigen, die als mögliche “Ultra-Linke” bestimmt wurden, wurden systematisch als fiche S klassifiziert und aktiver Überwachung unterzogen – ihre Schuld betraf lediglich eine abweichende Meinung. Verhaftungen am Flughafen, Drohgebärden in Form paternalistischer Ratschläge, Druck auf die Familien – viele von uns haben mehr oder weniger verschleierte Einschüchterungsversuche der Sicherheitsdienste erlebt.”
Eine repressive Strategie gegenüber pro-kurdischem Internationalismus ist überall in Europa zu beobachten: Im Dezember 2021 wurde die spanische Aktivistin Maria aus Deutschland abgeschoben und mit einem 20-jährigen Einreiseverbot belegt, da sie “ihre Anwesenheit in Deutschland einzig und allein dazu nutzen würde, um an politischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der internationalen kurdischen Befreiungsbewegung teilzunehmen” und ihre Fähigkeiten (in Kommunikationstechnologien und der kurdischen Sprache) es ihr ermöglichen würden, “ein Netzwerk aufzubauen und somit als Verbindung zwischen der radikalen Linken in Deutschland und der kurdischen Befreiungsbewegung zu dienen”, so eine Erklärung des Komitees Solidarität mit Maria!
Am 14. April 2023 fand in Sion (Schweiz) der Prozess gegen einen internationalistischen Aktivisten statt, der wegen “Angriff auf die Verteidigungskraft des Landes” und “Militärdienst im Ausland” angeklagt wurde, weil er sich in Rojava aufgehalten hatte.
Die Rote Hilfe sagte dazu:
“In der Akte benennt der Nachrichtendienst des Bundes mehrmals seine Zugehörigkeit zur extremen Linken und sein politisches Engagement. Dies ist ein Versuch, revolutionäre Aktivist*innen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.”
In England wurden Genoss*innen ihre Pässe entzogen und Einreiseverbote in den Schengen-Raum ausgesprochen. In Italien durchliefen mehrere AktivistInnen langwierige Gerichtsverfahren, weil sie in die Region gereist waren.
Als André Hébert sich 2016 auf seine Rückkehr nach Rojava vorbereitete, wurden ihm vom Geheimdienst DGSI willkürlich sein Reisepass und sein Personalausweis entzogen, mit der Begründung, er könne “schwere Störungen der öffentlichen Ordnung” verursachen und seine militärische Erfahrung “bei Angriffen auf französische Interessen in Verbindung mit der revolutionären Ultralinken” einsetzen. Diese Verunglimpfung und Schikane wird auch einigen linksgerichteten Medien wie Médiapart unterstützt.
Das CCFR hierzu:
“Diese vollkommen abstrusen Anschuldigungen wurden einige Monate später vom Pariser Verwaltungsgericht verworfen. Das Innenministerium war daraufhin gezwungen, ihm seine Ausweispapiere zurückzugeben und Schadenersatz zu zahlen. Trotz dieses juristischen Sieges wussten wir, dass der DGSI uns im Auge behalten würde und zu allem bereit war – auch zu haltlosen Anschuldigungen, um uns in die Form zu pressen, die sie sich für uns ausgedacht hatten: die von gefährlichen ultra-linken Veteranen, die die Gewalt des Syrien- Konflikts mit nach Hause zu bringen wollten.”
UNTERDRÜCKUNG DER KURDISCHEN DIASPORA
Frankreich blickt auf eine lange Geschichte der Unterdrückung kurdischer Menschen zurück. Die kurdische Diaspora wurde seit der Gründung der PKK im Jahr 1978 ununterbrochen zum Angriffsziel für Anti-Terror-Gesetze. Auflösungen kurdischer Kulturvereine, Festnahme von 200 Personen, die später alle freigesprochen wurden, Komplizenschaft mit dem türkischen Geheimdienst bei der Ermordung von KurdInnen in Paris (2013 und 2022), und so weiter.
2013 wurden in Paris drei kurdische Aktivistinnen von türkischen Geheimdienstoffizieren ermordet: Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Şeylemez. In Griechenland wurden im März 2020 unter dem Deckmantel des “Anti-Terror-Kampfes” das Solidaritätskomitee für politische Gefangene in der Türkei und Kurdistan und die “Anti-Imperialistische Front” Ziel einer Polizeirazzia, bei der zwischen 26 und 35 Personen verhaftet wurden.
Am 23. März 2021 fanden in Frankreich die umfassendsten Durchsuchungsaktionen gegen kurdische Aktionsnetzwerke der letzten zehn Jahre statt: 13 Personen wurden vom DGSI festgenommen, ihre Wohnungen und der Sitz des kurdischen Vereins in Marseille wurden gewaltsam durchsucht. Insgesamt wurden mehr als 800 Mitglieder der kurdischen Gemeinschaft vom DGSI befragt – so viele wie noch nie zuvor. 11 angebliche Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurden zuletzt am Freitag, den 14. April 2023, schwer verurteilt.
In einem Kommuniqué internationalistischer Freund*innen aus Marseille heißt es dazu, dass sich Macron und Erdogan einige Tage zuvor ausgetauscht hatten. Zusätzlich hatte auch ein Treffen zwischen den Außenministern beider Länder am Rande des Europäischen Rates zur internationalen Geopolitik stattgefunden.
Diese Repression wird durch ein geopolitisches Gleichgewicht zwischen der Türkei und der Europäischen Union ermöglicht. Auch letztere stuft die wichtigste Selbstverteidigungsorganisation des kurdischen Volkes (die PKK) als terroristische Organisation ein. Obwohl eine internationale Kampagne namens “Gerechtigkeit für kurdische Menschen” die Streichung der PKK von der Liste der terroristischen Organisationen forderte, erklärte der Europäische Gerichtshof, dass das kurdische Volk sich nicht mit Waffen verteidigen dürfe. Das ist eine Entscheidung, die untragbarer nicht sein könnte für ein Volk, das auch heute noch an vorderster Front gegen IslamistInnen kämpft und keine andere Wahl hat als Waffen zu gebrauchen, um die fortwährende Kolonisierung seines angestammten Territoriums zu überleben.
Die Entscheidung wird noch bekräftigt durch die Beitritte Finnlands und Schwedens zur NATO. Ihr Beitritt war von Erdogan u.a. an die Abschiebung kurdischer politischer Geflüchteter geknüpft. Diesen Bedingungen wurde vonseiten der Staaten zugestimmt.
DAS FASCHISTISCHE REGIME IN DER TÜRKEI
Die Türkei ist NATO-Mitglied, ein mächtiger, privilegierter und unverzichtbarer Partner. Die Türkei ist auch ein Staat, dessen Politik von einer völkermörderischen Ideologie verbunden mit dem Islam bestimmt wird. Die Türkei leistet nachweislich Unterstützung für Islamisten. Beispielsweise organisiert sie deren Ausbruch aus kurdischen Gefängnissen, woraufhin die Repression gegen die Kurd*innen dann weiter angeheizt wird.
Ihr politisches Projekt ist es, das eigene Territorium anhand von religiösen und ethnischen Linien zu säubern. Der türkische Staat hat sich des Genozids am armenischen Volk und zahlreicher Massenmorde an Kurd*innen und Ezid*innen schuldig gemacht. Die kurdischen Menschen waren gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um zu überleben.
Seither hat die türkische Anti-Terror-Gesetzgebung ihre Befugnisse sorgsam ausgebaut: zuerst gegen die kurdischen Guerillas, dann gegen kurdische Menschen im Allgemeinen und schließlich gegen jegliche linke Oppositionspartei. Sie verübte massive und tyrannische politische Säuberungen und schreckte auch nicht vor dem Verbot der größten linken Partei des Landes (der HDP) und der Inhaftierung tausender ihrer Mitglieder zurück. Die Reaktion der europäischen Linken blieb weit hinter dem zurück, was notwendig gewesen wäre.
Die Türkei ist auch ein Land, das LGBTQI*-Menschen offiziell als “degeneriert” betrachtet und gleichzeitig Milliarden Euro von der Europäischen Union erhält, um “die Einwanderung zu bekämpfen” (eine Investition, bei der es um militärische (und nicht humanitäre) Ausstattung geht).
Die Beispiele für Staatsterror in der Türkei sind ausführlich dokumentiert, aber zu zahlreich, um sie hier wiederzugeben. Der Westen ist absolut mitschuldig am Völkermord an den Kurd*innen, der vor Allem durch die Aufsetzung des Vertrags von Lausanne vor 100 Jahren und dann die militärische Zusammenarbeit in der NATO verwirklicht werden konnte.
WARUM BETRIFFT DAS AUCH EUCH?
“Je mehr die Regierungen angezweifelt werden, je mehr die Zustimmung für die alltagspolitischen Entscheidungen schwindet – und sie schwindet von Jahr zu Jahr –, desto mehr werden die Regierungen auf den Ausnahmezustand und den sogenannten “Kampf gegen den Terrorismus” zurückgreifen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und die immer folgerichtiger werdenden Revolten im Keim zu ersticken.”
Was jede*r Revolutionär*in über Terrorismusbekämpfung wissen sollte.
– Die Angeklagten von Tarnac –
1) Der Fall vom 8. Dezember 2020 kennzeichnet einen Meilenstein in Sachen Militarisierung von Repression. Menschen wurden für die – angebliche – Verbindung zu einer sogenannten “ultralinken” Ideologie oder internationalen Bewegungen eingesperrt. Da keine ausgeprägte Solidaritätswelle folgte, konnte Darmanin freimütig weiter den Weg für die Gleichsetzung von politischen Gegnern mit Terrorismus ebnen. Autoritäre Experimente werden immer auf dem Rücken von Minderheiten oder Sündenböcken ausgetragen. Die Vervollkommnung der repressiven Werkzeuge zur Unterdrückung einer Gruppe erschafft den Spielraum zur Repression von weiteren Gruppen.
Das Gesetz von 1936 über die Auflösung rechtsextremer Verbände ist heute das deutlichste Beispiel dafür. Das Gesetz wurde geschaffen, um den Faschismus zu bekämpfen – jedoch wurde es innerhalb weniger Jahre gegen die antikolonialen Bewegungen genutzt. Ein weiteres Beispiel: Zur Einführung der DNA-Erfassung wurde als Argument der Kampf gegen Pädokriminalität verwendet – nur um es dann auf alle Demonstrierenden auszuweiten. Desselben Arguments wird sich auch heute für die Überwachung der Telefone von EU-Bürger*innen bedient.
2) Im Bereich der Terrorismusbekämpfung hat die Phase nach 2015 die Einschränkung der Grundfreiheiten ermöglicht, und das auch noch in einem beispiellosen Tempo. Die Rechtsprechung zur “terroristischen Vereinigung von Straftätern” ist wahnwitzig. Es scheint dabei alles und jedes erlaubt zu sein – dabei wird sie seit Jahren sogar von Verfechtern des Rechtsstaats kritisiert. Umkehr der Beweislast (nicht mehr die Staatsanwaltschaft muss beweisen, was dir vorgeworfen wird, sondern du musst beweisen, dass es nicht stimmt), präventive Repression (du wirst verhaftet, bevor du überhaupt etwas getan hast), Schuldvermutung (du wirst bestraft, bevor du überhaupt vor Gericht stehst), etc.
3) Niemand im linken Lager kann ein Interesse daran haben, dass es sich im Gesetz und der öffentlichen Meinung durchsetzt, dass Aktivist*innen, die sich in sozialen Bewegungen und ökologischen Kämpfen engagieren, Terror zugeschrieben wird. Wenn die politischen Ansichten der angeklagten Genoss*innen kriminalisiert werden, geht es eigentlich darum, die Idee von Revolution selbst als eine terroristische Bedrohung zu beschreiben. Die Angeklagten von Tarnac haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die sehr vage gesetzliche Definition von Terrorismus es möglich macht, alle Menschen darunter zu fassen, die einen revolutionären Prozess bilden würden.
4) Die Sicherheitsstrategie läuft darauf hinaus, jeglichen Aktivismus strafbar zu machen. Wer das Gesetz übertritt, wird als kriminell betitelt, um Aktionen zu entpolitisieren. Dies ist eine neue Entwicklung. Vor einigen Jahrzehnten wurden politische Aktionen noch als solche anerkannt. Nun bezeichnet das Stigma des Anti-Terrorismus radikalen Aktivismus als eine “Bedrohung für die innere Sicherheit” und hebt damit die laufenen Entwicklungen auf die nächste Stufe. Nach dieser Erzählung könne die Bedrohung ganz schnell in Terrorismus ausufern, wenn ihr kein Einhalt geboten würde. Damit wird es ganz leicht, einfache Sachbeschädigung mit einem militärischen Aufgebot zu verfolgen (wie wir gerade bei den Soulèvements de la Terre gesehen haben, aber auch andere Genossen waren schon von solchen Operationen (angeführt von der SDAT) betroffen, wie zum Beispiel Ivan, die Angeklagten vom 15. Juni in Limousin usw.)
5) Fortschreitende administrative Repression (darunter politische Verfahren und Schnellverfahren) ist sehr gefährlich. Es gibt unzählige Geschehnisse, die als Verwaltungsmaßnahmen gelten: Abschiebungen, Hausarrest, Gebietsverbote, MICAS und weitere. Aktivist*innen aus Nachbarländern wurden kürzlich in Abschiebeknäste (CRA) geworfen. Diese Maßnahmen ermöglichen es, Aktivist*innen nur auf Grundlage von “Notizen” (notes blanches) des Innenministeriums zu bedrängen.
6) Noch vor ein paar Jahren wäre das Belangen von Aktivist*innen, nur weil sie möglicherweise mal daran gedacht haben könnten, eines Tages eine Aktion zu organisieren, Stoff der Dystopie gewesen. Noch vor 40 Jahren wurden selbst gewaltsame Aktionen in den Medien weniger reißerisch dargestellt. Anschuldigungen einzig und allein auf Geheimdienstnotizen zu gründen, ist gravierend. Aussagen dieser Dienste werden von Geheimhaltung gedeckelt. Sie können freimütig lügen und das war schon immer Teil der Vorgehensweise von Geheimdiensten. Die Tatsache, dass das Justizsystem den Faktor der Geheimhaltung solcher Anschuldigungen nicht berücksichtigt, obwohl die Angeklagten in der Lage sind, Lügen, Manipulationen und Erfindungen des DGSI sorgfältig aufzuzeigen, ist sehr beunruhigend für die Zukunft der sozialen Kämpfe in Frankreich.
7) Es herrscht gegenwärtig die Fehlannahme in militanten Kreisen, dass außerordentliche Maßnahmen wie im Rahmen von Anti-Terrorismus nur “wirklich” finstere Gestalten betreffen würden. Diese Annahme zeugt von einem Unverständnis der Dynamik, die sich ständig weiterschraubt: Der Militarisierung des Staates. Die Bevölkerung konform zu halten ist für das reibungslose Funktionieren eines Militärregimes unerlässlich. In diesem Regime gibt es keinen Platz für eine Opposition (sei sie politisch oder religiös). Das kleinste Sandkorn im Getriebe wird zur Bedrohung.
8) Der DGSI hat es auch auf Journalist*innen und Gewerkschafter*innen abgesehen. So wurden Mitglieder des CGT–EDF vom DGSI verhaftet und wie Kriminelle behandelt. Sie wurden im Zusammenhang mit einem Arbeitsstreik für Cyberkriminalität angeklagt. Auch Journalist*innen werden vom DGSI verfolgt, wenn sie beispielsweise Informationen über geopolitische Interessen Frankreichs enthüllen. Im Jahr 2018 führten Enthüllungen über die Verwendung von Waffen, die Frankreich im Jemen-Krieg verkauft hatte, zu Einschüchterungen, die von vielen Journalist*innen als “Angriffe auf die Informationsfreiheit” angeprangert wurden.
Mit der Darstellung von erfundenen Verschwörungen, versinkt Frankreich heute immer tiefer im Sumpf der autoritären Regime.
Mehr denn je müssen wir uns zusammenschließen, wenn emazipatorische politische Ideen und politischer Aktivismus juristisch bekämpft werden.
Sie wollen uns terrorisieren, doch wir werden das verhindern!
Solidarität mit allen Betroffenen von Repression!
CHRONOLOGIE DES FALLS
DER DGSI SPITZELT BEI LIBRE FLOT
2018 – 2020
Die Überwachung unseres Freundes Libre Flot wurde veranlasst, sobald er aus Rojava wiederkehrte. Dasselbe passiert vielen internationalistischen Freiwilligen: “Ein Genosse, der in Südamerika im Urlaub war, wurde beschuldigt, versucht zu haben, mit einer kolumbianischen Guerilla-Gruppe Kontakt aufzunehmen. Ein anderer, der sich in der ZAD aufhielt, soll angeblich eine Leuchtrakete auf einen Hubschrauber der Gendarmerie abgefeuert haben. Auch Beschädigungen von Telefonantennen, Vélib-Stationen oder Polizeiautos wurden mit uns in Verbindung gebracht. Diese völlig realitätsfremden Angstfabeln bestätigten, was wir bereits wussten: Bis das Innenministerium den idealen Übeltäter gefunden hätte, würde es nicht aufhören, uns zu verteufeln.”
Es gibt starke Hinweise darauf, dass Libre Flot schon zu diesem Zeitpunkt von mehreren nachrichtendienstlichen Abhörmethoden betroffen war: zumindest die Geolokalisierung und das Abhören seines Wohnfahrzeugs.
VORBEREITENDE ERMITTLUNGEN
07. Februar bis 20. April 2020
Am 7. Februar 2020 packt der DGSI das Gebräu aus “geheimen” Anschuldigungen in einem “Verrechtlichungs-Bericht” aus, der an die PNAT weitergeleitet wird. Die letztere liebt “weiße Noten” (notes blanches) und stürzt sich sofort darauf. Noch am selben Tag greift Benjamin CHAMBRE (1. Vize-Staatsanwalt) den Fall auf und beantragt bei einem einem Haftrichter (JLD) den Einsatz der durchdringendsten Überwachungsmethoden. Diese werden von der Justizministerin Anne-Clémence COSTA sofort bewilligt.
Mikrofone in einem bewohnten Lastwagen, abgefangene Telefongespräche, Geolokalisierung in Echtzeit, IMSI-Catching, Beschattungen usw. wurden allesamt angewendet.
In diesen zwei Monaten sammelte der DGSI Informationen, die dazu herhielten, eine gerichtliche Ermittlung zu erwirken.
GERICHTLICHE ERMITTLUNG
April – Dezember 2020
Viel passiert nicht, die Überwachung läuft, die Beschuldigten leben ihr Leben getrennt voneinander.
FESTNAHMEN UND HAFT
08. Dezember 2020 – 07. April 2022
08. Dezember 2020
Um 6 Uhr morgens stürzten sich verschiedene Elite-Einheiten unter der Leitung des DGSI (GAO, RAID) gleichzeitig auf neun Menschen in verschiedenen Regionen Frankreichs: Toulouse, Rennes, Vitry-sur-Seine, Cubjac (Dordogne) und Plestin-les-grèves (Finistère). Die Türen wurden eingetreten, dutzende hochgerüstete und vermummte Robocops stürmten in jedes Haus. Auch Sprengstoffexperten und die Hundestaffel waren dabei.
Die Hausdurchsuchungen dauerten den ganzen Tag lang, bei einigen Angeklagten bis zu 12 Stunden am Stück. Unter Einsatz von Erniedrigung und Gewalt wurden die Hausdurchsuchungen dann auch bei den Familien der Verhafteten vorgenommen.
Die neun festgenommenen Personen werden auf unterschiedliche Weise zu den Zellen des DGSI in Levallois-Perret gebracht: Einige werden in einer Zwangsjacke und mit einer Kapuze über dem Kopf im Auto abtransportiert; eine wird in Handschellen und mit einer undurchsichtigen Skimaske über den Augen im Zug verschleppt; wieder andere in Handschellen mit einem Flugzeug. Bei dieser groß angelegten Aktion wurde nicht an Mitteln und Ressourcen gespart.
Es folgten vier Tage in Polizeigewahrsam mit zahlreichen Vernehmungen. Drohungen, Unterstellungen, Manipulationen, Schlaf- und Nahrungsentzug, Umwandlung und Auslassung von Aussagen der Verhörten (die die Glaubwürdigkeit des DGSI-Szenarios infragestellen würden) in den Protokollen. Manchen der Befragten wurden außerhalb des Protokolls Lügen erzählt, um ihre Antworten zu beeinflussen und der Anklage Material zu liefern.
Zwei Menschen wurden nach dem Polizeigewahrsam ohne Anklage freigelassen, die anderen sieben angeklagt und vor den Anti-Terror-Ermittlungsrichter Jean-Marc Herbaut gebracht.
Zwei von ihnen wurden unter richterliche Beobachtung gestellt und die anderen fünf wurden am 11. Dezember 2020 in fünf verschiedene Gefängnissen in der Region Île-de-France unter dem Status DPS (détenu-e particulièrement signalé – Häftling unter besonderen Bedingungen) gebracht. Einer von ihnen wurde in völliger Isolationshaft gehalten.
08. Februar 2021
Erneute Festnahmen um 6 Uhr morgens bei zwei Personen in Ustaritz (Euskal Herri) und Festalemps (Dordogne) durch das RAID auf Anweisung des DGSI. Bei einer der beiden Personen wird die Tür ihres Studios aufgesprengt. Sie wird mit Waffen bedroht, mit Handschellen an ihr Bett gefesselt und dann für drei Tage in den Polizeigewahrsam gebracht. Danach werden beide ohne Anklageerhebung freigelassen.
März 2021
Die Isolationshaft von Libre Flot wird um drei Monate verlängert.
Der Untersuchungsrichter Jean-Marc Herbaut ordnet eine Ausnahmegenehmigung an, die dem DGSI freie Hand gibt, um das gesamte Umfeld der Angeklagten (Familie, befreundete Menschen, Kolleg*innen usw.) zu vernehmen. Diese Ausnahmeregelung endete erst im November 2022, nach Beendigung der Ermittlungen.
23. April 2021
Nach einer weiteren Anhörung vor dem Untersuchungsrichter wird der Antrag auf Entlassung für zwei Angeklagte angenommen, die zu diesem Zeitpunkt in der Frauenhaftanstalt Fleury-Mérogis und im Osny-Gefängnis inhaftiert waren.
Sie wurden unter strenger richterlicher Kontrolle entlassen. Sie verbrachten über vier Monate unter dem DPS-Status hinter Gittern, wobei eine von ihnen mehrere Wochen lang in völliger Isolation (kein Kontakt zu anderen Insassinnen) lebte.
Die Anträge auf Entlassung der anderen noch inhaftierten Angeklagten wurden abgelehnt. Auch ein Antrag beim Pariser Berufungsgericht wird abgelehnt. Es befinden sich immer noch drei Angeklagte im Gefängnis.
Juni 2021
Libre Flots Isolationshaft wird nochmals um drei Monate verlängert, trotz zunehmender psychischer und physischer Folgen.
September 2021
Libre Flots Isolationshaft wird nochmals um drei Monate verlängert
Eine weitere Verhaftung: Eine Person wird bei ihrer Rückkehr nach Frankreich nach mehreren Monaten im Ausland festgenommen. Obwohl sie mehrfach verdeutlichte, zu einer Vernehmung beim DGSI und dem Untersuchungsrichter bereit zu sein, wird sie bei ihrer Ankunft am Flughafen festgenommen und verbringt zwei Tage in Polizeigewahrsam beim DGSI, bevor sie ohne Anklage freigelassen wird.
15. Oktober 2021
Dem Antrag auf Entlassung eines Angeklagten, der sich noch hinter Gittern befindet, wird stattgegeben. Er wird unter strenger richterlicher Kontrolle (Arbeitszwang, Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf eine einzelne Region, zweimal pro Woche Meldung auf der Polizeiwache) entlassen. Nur noch zwei hinter Schloss und Riegel!
27. Oktober 2021
Die “Nationale Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung” (PNAT) legt Berufung gegen die Entscheidung des Richters ein, auf deren Grundlage ein Angeklagter fünf Tage zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Am 27. Oktober 2021 wird im Pariser Berufungsgericht entschieden, ob er doch wieder in den Knast soll oder die Entlassung aufrechterhalten wird. Das Berufungsgericht bestätigt die Entscheidung des Richters, er bleibt “auf freiem Fuß”!
05. November 2021
Der in Fleury-Mérogis inhaftierte Angeklagte wird unter strenger richterlicher Kontrolle (wöchentliche persönliche Meldung, monatliche Termine beim SPIP und Psychiater, Reisebeschränkung auf drei Regionen im Pariser Großraum) vom Gewahrsam befreit. Die PNAT legt dieses Mal keine Berufung ein…
Dezember 2021
Justizminister Eric Dupont-Moretti verlängert die Isolationshaft des letzten Angeklagten (Libre Flot) hinter Gittern. Nach 12 Monaten Isolationshaft wird die Entscheidung der Verlängerung an den Justizminister übergeben. Libre Flots Zustand wird immer kritischer.
Rückgabe der Nichtigkeitsakte, die von den Anwälten einige Monate zuvor eingereicht worden war. Alle bemängelten Nichtigkeiten (die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes von Überwachungsmethoden, Fehler in den Protokollen und andere Machenschaften…) werden kategorisch abgelehnt.
27. Februar 2022
Libres Antrag auf Entlassung wird abgelehnt, obwohl ein Gutachten von zwei verschiedenen Abteilungen der Strafvollzugsbehörde für Eingliederung und Bewährungshilfe (SPIP) bestätigt, dass eine Entlassung mit elektronischer Fußfessel umsetzbar wäre.
Er tritt in den Hungerstreik und erklärt seine Forderungen, die auch in einem Text veröffentlicht werden. Täglich versendet er weiterhin Anträge auf Entlassung aus dem Gefängnis.
März 2022
Dupont-Moretti verlängert die Isolationsbedingungen, während sich Libre Flot im Hungerstreik befindet.
24. März 2022
Nach 25 Tagen Hungerstreik wird Libre Flot ins Gefängniskrankenhaus von Fresnes eingeliefert. Er selbst hatte die Krankenhauseinweisung als erforderlich erachtet, um direkten Zugang zu Ärzt*innen und medizinischer Versorgung zu haben.
Einige Tage danach erfuhren seine Anwälte, dass zeitgleich mit der Einweisung ins Krankenhaus die Isolationsbedingungen aufgehoben wurden. Trotz dessen ist es ihm nicht erlaubt, einen Spaziergang zu machen, denn dafür ist er nun zu schwach. Zusätzlich erhielt er die Genehmigung, mit einer seiner Mitangeklagten zu kommunizieren.
Dies beendete seinen Hungerstreik jedoch nicht, da dieser auf der einzigen Forderung – dem Ende seiner Inhaftierung – gründete. Sein Gesundheitszustand wird kritisch: Er hat 16 Kilo abgenommen und benötigt lebenserhaltende Maßnahmen.
04. April 2022
Es wird ein internationaler Tag zur Unterstützung von Libre Flot organisiert: Zahlreiche Kundgebungen finden innerhalb Frankreichs (Lille, Albi, Paris, Toulouse, Limoges, Straßburg, Rennes und anderen Städten), aber auch in vielen anderen Ländern Europas (Griechenland, Schweiz, Deutschland, England, Ukraine, Portugal, Dänemark, Finnland…) und in Rojava statt.
Am selben Tag um 18 Uhr beschließt er, seinen Hungerstreik zu beenden.
07. April 2022
Mit großer Erleichterung erfahren seine Angehörigen und Unterstützer*innen, dass Libre Flot in ein ziviles Krankenhaus in der Nähe von Paris verlegt wurde, da sein Leben jeden Moment hätte zuende gehen können. Die Ärzt*innen hatten deshalb Sorge, seine medizinische Betreuung nicht mehr gewährleisten zu können. Daraufhin hatten sie seine Verlegung in ein anderes Krankenhaus beantragt. Dazu mussten sie sich mit der Justiz auseinandersetzen, um die Entlassung aus der Strafvollzugsanstalt zu erwirken. Der Untersuchungsrichter stimmte nach Verhandlungen mit den Anwälten seiner Entlassung aus medizinischen Gründen zu.
Er wird mit einer elektronischen Fußfessel entlassen und muss zunächst zur Rehabilitierung eine Zeit lang in einem auf Ernährung spezialisierten Krankenhaus bleiben.
ENDE DER ERMITTLUNGEN
August bis November 2022
26. August 2022
Der Untersuchungsrichter Jean-Marc Herbaut beendet die gerichtlichen Ermittlungen des Falls vom 8. Dezember. Gleichzeitig wird damit dem Rechthilfeersuchen ein Ende gesetzt, das es dem DGSI ermöglichte, “alle zur Verfügung stehenden Mittel” einzusetzen, um die Angeklagten und ihre Familien zu schikanieren.
Es bedeutet ebenfalls, dass die Akte geschlossen wird. Die Angeklagten und ihre Verteidigung erhalten eine Frist von drei Monaten, um die alle Faktoren (wie Anträge zur Dokumentensichtung usw.) einzureichen. Nach Ablauf dieser Frist ist nur noch die PNAT berechtigt, Anträge zu stellen.
28. September 2022
Der Richter gibt seine Zustimmung zur Entfernung von Libre Flots elektronischer Fußfessel. Er unterliegt jedoch wie die anderen Angeklagten weiterhin einer strengen richterlichen Kontrolle (Arbeitszwang, Reisebeschränkungen auf eine einzige Region, einmal pro Woche Meldung auf der Polizeiwache).
November 2022
Einigen Lockerungen der richterlichen Kontrolle wird stattgegeben, hauptsächlich in Bezug auf die Reiseeinschränkungen. Einem Antrag auf Aufhebung der Kontaktsperre zwischen zwei Angeklagten wird zugestimmt.
PNAT beantragt, den Fall vor dem Strafgericht und nicht dem Schwurgericht zu verhandeln.
PROZESSVORBEREITUNG
bis Oktober 2023
04. April 2023
Während der Haft führte Libre Flot zahlreiche Rechtsmittel gegen seine Isolation im Gefängnis ins Feld. Dazu findet eine Anhörung vor dem Verwaltungsgericht in Versailles am 4. April 2023 statt. Hier wird nun die Isolation als rechtswidrig anerkannt und der Staat muss 3000 € Schadensersatz zahlen.
Wir hoffen, dass dies ein Präzedenzfall wird, obwohl wir bezweifen, dass er sich auf die Gefängnisverwaltung tatsächlich auswirken wird. Das lässt sich schon daran erkennen, wie weit diese das Verfahren verschleppt hat.
04. Juli 2023
Vorbereitende Anhörung. Es ist das erste Mal seit fast drei Jahren, dass sich die Angeklagten begegnen. Es ist auch das erste Mal, dass sie mit der PNAT und der Richterin, die den Prozess leiten wird, zusammentreffen. Die Angeklagten erheben Anspruch auf die Aufhebung des Kommunikationsverbots und weitere Erleichtungen der richerlichen Kontrolle. Die Richterin lehnt alles ab.
Fußnoten :
Franz. parquet national antiterroriste, gegründet 2019 mit Sitz in Paris.
APEX oder TATP (Triacetontriperoxid) = explosiver Stoff.
Französische Interessenvertretung, die sich für digitale Rechte und Freiheiten ihrer Bürger*innen einsetzt. [https://laquadrature.net/]
Änderung des „Gesetzes der Inneren Sicherheit“
Ital. Schweigepflicht der Mitglieder der Mafia
Also die Anzweifelung/Streichung bestimmter Beweismittel, wenn Unregelmäßigkeiten festgestellt werden.
Gérald Darmanin: franz. Innenminister
Laurent Nunez: Bis 2018 Leiter des DGSI, dann Staatssekretär im Innenministerium. Ab Juli 2022 Polizeipräfekt von Paris.
Eric Ciotti: Präsident der konservativen republikanischen Partei (LR) und erhielt 2010 einen Big Brother Award.
CCIF: Collectif contre l’islamophobie en France – Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich
Bloc Lorrain war eine ökologische antikapitalistische Organisation, die sich an der Bewegung der Gelbwesten beteiligte und unter anderem Essensverteilungen organisierte.
= “Kollektiv der aufständigen Erde”, Innenminister Darmanin bezeichnete sie als “Ökoterroristen” und löste die Organisation am 21. Juni 2023 offiziell auf.
Eine lokale Medienseite, die auch eine Zeitung herausgibt. Soll zu einer Demonstration “gegen Staat und Polizei” aufgerufen haben und geriet deshalb in Darmanins Visier.
renforçant la sécurité intérieure et la lutte contre le terrorisme
Eine “weiße Note” (note blanche) ist eine Notiz, die von den Geheimdiensten ohne Erwähnung seiner Herkunft, des Dienstes, aus dem sie stammt, oder aus dem Namen des Beamten, der sie geschrieben hat, ausgestellt hat. [vgl. https://isabelleattard.fr/notes-blanches-lobscure-surveillance-des-francais/%5D
Polizeitruppe, die dem Verteidigungsministerium, zugleich dem Innenministerium unterstellt ist
Prévention des Atteintes à la Sécurité Publique (PASP)
Commission nationale consultative des droits de l’homme (CNCDH), nach französischem Recht einer unabhängigen Verwaltungsbehörde gleichgestellt, die öffentliche Entscheidungsträger in Fragen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts berät und die internationalen Verpflichtungen Frankreichs in diesen Bereichen überwacht.
Eine weitere unabhängige Verwaltungsbehörde, deren Aufgabe es ist, die Rechte der Bürger*innen gegenüber den Behörden zu verteidigen sowie die Förderung der Rechte des Kindes, Bekämpfung von Diskriminierungen, Einhaltung der Berufsethik bei Sicherheitsaktivitäten sowie der Schutz von Whistleblowern.
Contrat d’engagement républicain
Der Lehrer wurde am 16.10.2020 im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine auf offener Straße von einem islamistisch motivierten 18-Jährigen enthauptet.
Fichier Judiciaire Automatisé des auteurs d’Infractions Terroristes
fiche S = Karteikarte S, „S“ steht für Sûreté de l’État, auf deutsch “Staatssicherheit”.
“ Justice For Kurds”
Confédération Générale du Travail = General Confederation of Labour
Fahrradverleihsystem in Paris
Juge des libertés et de la détention bedeutet: “Freiheits- und Haftrichter”
Groupe d’appui opérationnel – Operationelle Unterstützungstruppe = Spezialeinheiten des DGSI
Abkürzung fürRecherche, Assistance, Intervention, Dissuasion, also Suche, Unterstützung, Intervention, Abschreckung = Anti-Terror-Spezialeinheiten
Service pénitentiaire d’insertion et de probation = Teil der französischen Strafvollzugsverwaltung, die Menschen im offenen sowie im geschlossenen Vollzug kontrollieren soll.
Lesbar hier: https://solidaritytodecember8.files.wordpress.com/2022/03/why_i_am_on_hunger_strike_27feb2022_eng-1.pdf
Gericht für besonders schwere Straftaten